Wasserstoff ist kein Allheilmittel; Elektrifizierung muss vorangetrieben werden

Pressemitteilung zur Rekordfahrt des Wasserstofftriebwagens über 1.175 km

Oldenburg, den 17.09.2022

Freitag, den 16.09.2022, meldete die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG), dass ihr neuer Wasserstoffzug, der LINT X von Alstom, auf einer Langstreckenfahrt insgesamt 1.175 Kilometer mit derselben Tankfüllung zurückgelegt habe. Der Fahrgastverband PRO BAHN beglückwünscht die LNVG und Alstom zu dieser Leistung, warnt aber angesichts der derzeitigen Euphorie dringend davor, Wasserstoff im Zugverkehr als Allheilmittel zu betrachten und darüber hinaus die wichtige Elektrifizierung von Bahnstrecken zu vernachlässigen. Als Fahrgastvertreter sehen wir Wasserstoff im Zugverkehr wegen seiner offenkundigen und grundsätzlichen Mängel nur als Lösung für Strecken mit rein lokaler Bedeutung und geringer Nachfrage, die zudem auf lange Sicht keine Elektrifizierungsperspektive haben. Überall sonst ist die schnellstmögliche Elektrifizierung vorzuziehen und gegebenenfalls für eine Übergangszeit bis zur Fertigstellung der Oberleitung ein Betrieb mit batterieelektrischen Fahrzeugen, sogenannten BEMUs, einzurichten. Diese Position entspricht auch jener des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Problematisch an Wasserstoff ist vor allem der systembedingt niedrige Wirkungsgrad. Während reine Elektrofahrzeuge hier bis zu 90 % und batterieelektrische Fahrzeuge immerhin noch ca. 75 % schaffen, bringt es ein Wasserstofftriebwagen auf nur etwas mehr als 20 %. Das heißt, für einen Wasserstoffzug wird etwa viermal so viel Energie benötigt wie für einen elektrisch betriebenen Zug. Selbst wenn diese Energie komplett CO2- neutral erzeugt wird, entsteht dadurch ein gewaltiges Kostenproblem für den Betrieb von Wasserstoffzügen.

Eine Erhöhung des Wirkungsgrades bei Wasserstoff auf ein ähnliches Niveau wie bei Elektrozügen ist hingegen nicht möglich, allein schon, weil die Energie bis zum Antrieb zweimal umgewandelt werden muss: einmal zur Erzeugung des Wasserstoffs, einmal zur Erzeugung des Antriebsstroms. PRO BAHN befürchtet daher, dass ein großflächiger Einsatz dieser Triebwagen in Niedersachsen aufgrund der deutlich höheren Betriebskosten sogar zu weniger Zugfahrten führen kann – und damit schlimmstenfalls die Verkehrswende torpediert.

PRO BAHN erwartet daher von der zukünftigen niedersächsischen Landesregierung in Hannover eine klare, Strategie dazu, welche bislang dieselbetriebenen Strecken demnächst elektrifiziert, welche als Vorstufe zur Elektrifizierung mit batterieelektrischen Fahrzeugen bedient und welche mit Wasserstoff betrieben werden sollen. Diese Strategie muss allein auf verkehrliche Abwägungen gegründet werden und darf nicht industriepolitisch motiviert sein, nur weil Alstom in Salzgitter den LINT X produziert. Insbesondere fordern wir von der neuen Landesregierung auch eine Bestandsgarantie für alle zukünftig wasserstoffbetriebenen Strecken, die mindestens das bisherige Angebot dauerhaft sicherstellt.

Die niedersächsische Landespolitik ist dabei gut beraten, einen Blick auf den nördlichen Nachbarn Schleswig-Holstein zu werfen, wo man sich bewusst dafür entschieden hat, flächendeckend BEMUs einzusetzen. Auch dort besteht das Problem, dass es viele nicht-elektrifizierte Strecken gibt, die sich nicht binnen weniger Jahre alle mit Oberleitung ausstatten lassen. Dafür arbeitet man aber konsequent auf dieses Ziel hin und errichtet für die Übergangszeit auf längeren nicht-elektrifizierten Abschnitten kurze Oberleitungsinseln, an denen die BEMUs mit ihren Stromabnehmern aufladen können.

PRO BAHN hat Liste zu elektrifizierender Strecken vorgelegt

Bereits im letzten Jahr hat PRO BAHN zu diesem Thema ein Forderungspapier verabschiedet, in dem die aus unserer Sicht in Niedersachsen oder mit Bezug zu Niedersachsen zu elektrifizierenden Strecken klar:benannt werden. Dazu gehören aufgrund ihrer überregionalen Bedeutung:

  • Oldenburg – Cloppenburg – Osnabrück: für Regionalexpresszüge von der Küste bis ins Ruhrgebiet, zur Entlastung des Knotens Bremen und zur Stabilisierung des Fahrplans durch hohe Beschleunigung von Elektrotriebzügen
  • Cuxhaven – Bremerhaven-Lehe: für durchgehende Züge Cuxhaven – Bremen – Hannover und Fernverkehr zur Küste sowie umgeleiteten Güterverkehr
  • Stade – Cuxhaven: für durchgehende elektrische Regionalexpresszüge Cuxhaven – Hamburg ohne Dieseltraktion und verkürzte Fahrzeiten sowie den Güterverkehr
  • Langwedel – Soltau – Uelzen: für einen attraktiveren Regionalverkehr und überregionale Direktverbindungen Bremen – Uelzen – Stendal – Berlin auf kürzester Strecke sowie den Güterverkehr zur Entlastung des Knotens Hannover
  • Hildesheim – Goslar/Bad Harzburg – Halberstadt – Halle: für eine schnellen, durchgehenden Regionalexpressverkehr zwischen Hannover und Halle mit verkürzten Fahrzeiten als Alternative zum Umweg über Magdeburg
  • Leinefelde – Gotha: für eine Umstellung der RE-Linie Göttingen – Erfurt – Glauchau auf Elektrotraktion
  • Löhne – Hameln – Elze: als Entlastungsstrecke für den Güterverkehr aus Richtung Ostwestfalen in Richtung Magdeburg und zur Schaffung freier Kapazitäten im Korridor Bielefeld – Hannover – Braunschweig
  • Ihrhove – Groningen: für eine attraktive Schnellverbindung Groningen – Leer – Oldenburg – Bremen
  • Lübeck – Büchen – Lüneburg: als Entlastungsstrecke für den bisherigen Weg im Fern- und Güteverkehr über Hamburg

Darüber hinaus fordert PRO BAHN die Elektrifizierung weiterer Strecken, die sonst als wasserstoffbetriebener Inselbetrieb mit nur wenigen Fahrzeugen und teurer Infrastruktur zum Tanken besonders unwirtschaftlich werden würden.

Hierzu gehören unter anderem:

  • Delmenhorst – Hesepe (- Osnabrück)
  • (Coevorden –) Neuenhaus – Nordhorn – Bad Bentheim
  • Buchholz – Soltau – Bennemühlen (-Hannover)
  • Goslar – Kreiensen

Die neue niedersächsische Landesregierung ist hier aufgerufen, endlich auch die Möglichkeiten zu nutzen, die das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) bietet. Es sieht auch bei Elektrifizierung eine Kostenübernahme von bis zu 90 Prozent durch den Bund vor.

Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Das Gutachten der LNVG für die Strecken von Oldenburg bzw. Delmenhorst nach Osnabrück veranschlagt für die Elektrifizierung des knapp 110 Kilometer langen Abschnitts zwischen Oldenburg Hbf und Osnabrück-Eversburg Kosten von 145 Mio. €. Bei entsprechender Förderung müsste Niedersachsen hiervon nur 14,5 Mio. € selbst tragen – ein regelrechtes Schnäppchen für derart viel neue Infrastruktur.

Ferner sollte Niedersachsen sich dafür einsetzen, dass zukünftig auch, wie vom VDV empfohlen, einfachere Bauweisen von Oberleitungen eingesetzt werden können. Derzeit wird bei jeder Elektrifizierung jener Standard eingesetzt, der auch für 200 km/h schnelle Fernzüge benötigt wird. Gerade auf regionalen Strecken mit niedrigen Streckenhöchstgeschwindigkeiten könnten hier durch eine vereinfachte Bauweise erhebliche Kosten eingespart werden.

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